BG.2011.27, BG.2011.29
Im Jahr 2010 stritten die Kantone (namentlich Zürich, St. Gallen, Aargau, Bern und Zug) mit der Bundesanwaltschaft vor Bundesstrafgericht um die Zuständigkeit für eine grosse Zahl von Verfahren wegen Phishings (bzw. Pharming). Also mittels SPAM massenhaft verbreitete Angriffe auf Bankkunden. Dabei werden Zugangsdaten – unter Umständen mit Hilfe eines E-Banking-Trojaners – abgegriffen und in der Folge Geld abdisponiert.
Dem Zuständigkeitsstreit zu Grunde liegt Art. 24 Abs. 1 StPO:
Der Bundesgerichtsbarkeit unterstehen zudem die Straftaten nach den Artikeln 260ter [krim. Organisation], 260quinquies [Terrorismusfinanzierung], 305bis [Geldwäscherei], 305ter [mangelnde Sorgfalt bei Finanzgeschäften ]und 322ter–322septies [Korruptionsdelikte] StGB sowie die Verbrechen, die von einer kriminellen Organisation im Sinne von Artikel 260ter StGB ausgehen, wenn die Straftaten: a. zu einem wesentlichen Teil im Ausland begangen worden sind; [oder] b. in mehreren Kantonen begangen worden sind und dabei kein eindeutiger Schwerpunkt in einem Kanton besteht..
Art. 24 Abs. 1 StPO – zwingende Bundeszuständigkeit für organisiertes Verbrechen, Terrorismusfinanzierung und Wirtschaftskriminalität
Die Phishing-Attacken sind ausschliesslich finanziell motiviert und die Deliktserlöse werden standardmässig gewaschen, weshalb das Phänomen unter die Geldwäscherei subsumiert wurde.
Die Bundesanwaltschaft – welche ihre Zuständigkeit selbstverständlich ablehnte – argumentierte mit Blick auf die Aussicht, zahllose Verfahren gegen Money Mules führen zu müssen – unspektakuläre Verfahren gegen kleine Fische, oft naive Leute, ohne oder mit geringer Krimineller Energie, wie folgt:
„Die Bundesanwaltschaft konzentriert sich auf die grössten Fälle von Wirtschaftskriminalität, um die Effizienz in der Strafverfolgung gemäss den ihr übertragenen Kompetenzen zu steigern und dabei zugleich die kantonalen Strafverfolgungsbehörden zu entlasten. Der Bund soll zudem diejenigen komplexen Verfahren an die Hand nehmen, bei denen namentlich internationale Kontakte, die für aufwändige Verfahren notwendigen Ressourcen und besonderes Fachwissen oder Sprachkenntnisse unabdingbar sind.“
Argumentation Bundesanwaltschaft gemäss E. 2.3
Der besondere Kniff dieses buchstäblich salomonischen Entscheides besteht nun darin, die Zuständigkeit aufzuteilen zwischen der ausländischen Täterschaft (Hintermänner), die gestützt auf Art. 24 Abs. 1 lit. a StPO in Bundeszuständigkeit (international, komplex etc.) fällt und die inländische Täterschaft – die Money Mules oder „Finanzagenten“ (schnöde Massendelikte) – welche in die Zuständigkeit der Kantone fallen sollen:
2.4 Was die Strafbarkeit der Finanzmanager (auch Mules oder Finanzagenten genannt) betrifft, gilt es zu beachten, dass diese in den meisten Fällen nur für die Ausführung von wenigen Zahlungsaufträgen eingesetzt werden [..]. Zudem werden die von ihnen mutmasslich verübten Straftaten weder zu einem wesentlichen Teil im Ausland noch in mehreren Kantonen begangen. Die Finanzmanager können überdies nicht unbesehen als Mittäter der aus dem Ausland agierenden Hintermänner qualifiziert werden. Ihrem Tatbeitrag kommt im Hinblick auf den gesamten Tatkomplex eine sehr geringe Bedeutung zu. In den meisten Fällen dürften die Finanzmanager die Zahlungsaufträge ohne das Wissen um die dahinter stehenden Delikte ausführen. Unter diesen Umständen besteht hinsichtlich der Strafbarkeit der in der Schweiz handelnden Finanzmanager kein Raum für die Anwendung von Art. 24 Abs. 1 StGB. Die Handlungen der Finanzmanager können nicht unter den Tatbestand der Unterstützung einer kriminellen Organisation im Sinne von Art. 260ter Ziff. 1 Abs. 2 StGB subsumiert werden, da sie regelmässig nicht über den Hintergrund ihres Tätigwerdens informiert sein dürften und in den meisten Fällen lediglich eine einzelne Handlung, d.h. einen einzigen
BG.2011.27, E. 2.4
Zahlungsauftrag ausführen, weswegen ihr Beitrag nicht ohne Weiteres als wesentlich bezeichnet werden kann [..] Demnach kann für die Verfolgung und Beurteilung der in der Schweiz handelnden Finanzmanager keine Bundeszuständigkeit begründet werden.
Kommentar
Es ist allgemein bekannt (vgl. NZZ vom 15.05.2015), zu was dieser Leitentscheid führte: Die Bundesanwaltschaft übernahm über 2’000 Phishing-Verfahren der Kantone und stellte sie ein. Etwas anderes blieb ihr gar nicht übrig: Die Aufklärung solcher Fälle ist ohnehin enorm schwierig und bei Verfahren, die infolge der Gerichtsstandsstreitigkeit lange liegen gelassen wurden, schlicht unmöglich.
Danach führte die Bundesanwaltschaft nur noch vereinzelte, ausgewählte Verfahren in diesem Bereich, dies jedoch m.E. sehr erfolgreich (Vgl. Beispiel 1: Farid Essebar und Beispiel 2: VOPHI) – was in der Öffentlichkeit jedoch kaum Beachtung fand.
Die Kantone ihrerseits verfolgen seither „ihre“ Money Mules, wobei die Erfahrung zeigt, dass die überwiegende Vielzahl in der Romandie ansässig ist und ein abschreckende Bestrafung aufgrund der oft geringen Deliktsbeträge und der geringen kriminellen Energie / Naivität im Einzelfall oft unmöglich ist. Der Koordinationsaufwand unter den Staatsanwaltschaften ist dabei gross (führt aber immerhin wegen der vielen Verfahrensabtretungen zu einer Aufblähung der Erledigungszahlen).
Die Frage, welche Rolle die Bundesanwaltschaft in der Cyber-Strafverfolgung tatsächlich spielen soll, bleibt bis heute unbeantwortet. Es ist eine politische Frage. Die Bundesanwaltschaft schuf unter Ex-Bundesanwalt Lauber das „Cyber-BOARD“ von Bund und Kantonen als Reaktion auf diese Unsicherheit – ein Gefäss, in dem sich Spezialisten regelmässig über austauschen und koordinieren können / sollen.