BStrGer BG.2018.41-50 vom 25.02.2019
Die Strafverfolgung ist primär Sache der Kantone. Ausnahmsweise ist der Bund (Bundesantwaltschaft) für Deliktsbereiche zuständig gemäass Art. 23 und 24 StPO. Der Entscheid ist ein Praxis-Beispiel, das zeigt, dass die aktuelle Kompetenzenordnung zwischen Bund und Kantonen im Bereich Internetkriminalität versagt.
Das Online-Betrugsphänomen der „Sanierungsbetrüge“ hatte massive Ausmasse angenommen. Dabei schalten dubiose Firmensanierer Werbung (online und in Zeitungen) für Kredite, um in Schieflage geratene Unternehmen zu retten. Die Geschädigten müssen dann in der Regel erstmal eine Bearbeitungsgebühr zahlen, bevor sie dann angeblich in den Genuss eines Kredites kommen. Dazu kommt es in der Regel nie. Die Hintermänner dieser Betrugsmasche verstecken sich hinter einem undurchsichtigen Geflecht aus Briefkastenfirmen und Stroh-Leuten im In- und Ausland. Eine gute Erklärung zum Phänomen findet sich bei der „Reklamationszentrale Schweiz„.
Gemäss Art. 24 Abs. 1 StPO unterstehen der Bundesgerichtsbarkeit unter anderem die Straftaten nach Art. 260ter und Art. 305bis StGB, wenn die Straftaten zu einem wesentlichen Teil im Ausland (lit. a), oder in mehreren Kantonen begangen worden sind und dabei kein eindeutiger Schwerpunkt in einem Kanton besteht (lit. b).
E. 2.2
Moderne Deliktsphänomene – insbesondere im Bereich Online-Betrug – betreffen stets die ganze Schweiz, also alle Kantone, ohne dass es zu einer Schwerpunktbildung kommt. Dies spricht gemäss Art. 24 Abs. 1 StPO für Bundeszuständigkeit. Das Problem: Die Kantone wissen – wenn überhaupt – nur was im eigenen Kanton läuft. Ein gesamtschweizerisches Lagebild fehlt noch immer. Um aber Bundeszuständigkeit etablieren zu können, müssen die Kantone diese Voraussetzungen erst nachweisen. Es kann viele Monate, gar Jahre dauern bis dies gelingt. In der Zwischenzeit – während der Dauer des Kompetenzkonfliktes – verfolgt faktisch niemand systematisch das Phänomen.
Die Verfahrenskompetenz des Bundes wurde geschaffen, um Taten des organisierten Verbrechens, der Geldwäscherei und der komplexen
E.2.2
Wirtschaftsstraftaten effizient zu bekämpfen (vgl. Botschaft vom 28. Januar 1998 über die Änderung des Strafgesetzbuches, der Bundesstrafrechtspflege und des Verwaltungsstrafrechtsgesetzes [Massnahmen zur Verbesserung der Effizienz und der Rechtsstaatlichkeit in der Strafverfolgung], BBl 1998 II S. 1544 ff.). Ob Taten nach Art. 24 Abs. 1 lit. a StPO überwiegend bzw. zu einem wesentlichen Teil im Ausland begangen wurden, beurteilt sich nicht nach quantitativen, sondern nach qualitativen Kriterien, d.h. danach, ob die ausländische Komponente einen derartigen Umfang erreicht, dass sich die Bundesgerichtsbarkeit im Hinblick auf eine effiziente Strafverfolgung als geeignet erweist (BGE 130 IV 68 E. 2.2 S. 71).
Stellt sich die Frage wie effizient es ist, wenn bei jedem neuen gesamtschweizerischen Phänomen jahrelang über die Zuständigkeit gestritten wird (werden muss)…
Die Zuständigkeit des Bundes im Sinne von Art. 24 Abs. 1 StPO ist zwingend. Allerdings ändert der zwingende Charakter der Bundesgerichtsbarkeit nichts daran, dass diese in hohem Masse unbestimmt ist und nicht trennscharf bestimmt werden kann (vgl. BGE 132 IV 89 E. 2).
E. 2.2
Die Bundesanwaltschaft versuchte sich des Phänomens zu entledigen, indem sie argumentierte, die Kantone hätten zu lange gebraucht, um Bundeszuständigkeit geltend zu machen. Sie hätten die Zuständigkeit „ersessen“. Das Bundesstrafgericht stellte in diesem Entscheid klar, dass dies nicht möglich ist – die Zuständigkeit der Bundesanwaltschaft bleibt bestehen.
Kommentar
Da kantonale Zuständigkeit die Regel und Bundeszuständigkeit die Ausnahme ist, müssen die Kantone bei jedem neuen gesamtschweizerischen Phänomen erst aufwändig Bundeszuständigkeit etablieren. Dies fällt ihnen schwer, weil die dafür nötige Übersicht fehlt.
Die Kantone versuchen diesem Problem zu begegnen, indem sie Lage-Daten besser austauschen (Stichwort: nationale Polizeidatenbank PICSEL – bisher erst in der Romandie operativ). Dies ist operativ schwierig umzusetzen und noch fehlen teilweise die gesetzlichen Grundlagen.
Gesetzgeberisch könnte dieses Problem angegangen werden, wenn man die qualitativen Zuständigkeitskriterien erweiterte. Denn: Der Umstand, dass alle Kantone betroffen sind und es nicht zu einer Schwerpunktbildung kommt, ist der Normalfall bei allen Phänomenen, bei denen die Täterschaft ihre Opfer wahllos über das Internet „akquiriert“.
Beispiel:
Ergänzung des Fall-Kataloges gemäss Art. 24 Abs. 1 StPO um eine weitere Variante (lit. c).
a. zu einem wesentlichen Teil im Ausland begangen worden sind;
b. in mehreren Kantonen begangen worden sind und dabei kein eindeutiger Schwerpunkt in einem Kanton besteht.
c. (neu): die Kontaktanbahnung zwischen Tätern und potentiellen Geschädigten wahllos über das Internet erfolgt.